Brauchen wir Kunst?
Immer wieder geistert der Ausdruck herum, dass Kunst sich selbst zerstört. Nicht die Kunst zerstört die Kunst, die Gesellschaft liquidiert Kunst. Wie die altgriechische Gottheit, die ihre Kinder frisst, vernichtet die Gemeinschaft das Individuum. Es ist kein Einzelfall, dass Bilder von den Wänden gerissen wurden und mit den Füßen darauf rumgetrampelt wurde. Im privaten wie im öffentlichen Raum. Statt Toleranz Engstirnigkeit, statt Achtung vor dem Ausdruck des anderen Respektlosigkeit und Niedertracht. Was übersehen wird, dass man sich dabei selbst zerstört. Selbstvernichtung als narzisstischer Lustmord. Eine Trotzhaltung, die nicht begreift, dass Lebensäußerungen sich in Kunst ausdrücken und in ihr widerspiegeln. Kunst ist nicht zweckfrei. Auch nicht l'art pour l'art, was manche Kritiker glauben machen wollen. Aufrühren, ja. Stellung beziehen, selbstverständlich. Seelenqualen offenbaren, auch das. Regressive Gebärden dagegen überwuchern sich mit der Zeit selbst. Kunst dagegen behält ihre Ziele als gesellschaftliche Beispieläußerung bei. Oftmals nur für eine Bildungsschicht, die wiederum sich aufteilt in mehrere Bewusstseinsebenen und individuellen Stellungnahmen.
Ist der Künstler ein Hofnarr der Gesellschaft? In seiner urtümlichen Eigenart scheint er ein Privilegierter zu sein. Ein Individualist gegenüber dem Publikum, das neuerdings (dank des vielfältigen Medienangebots) umfassender informiert werden will. Das seine Frustration formuliert sehen will, weil der Mut zur Selbsterkenntnis in Form von Konfrontationen gewachsen ist. Erklärungen einfordern, nachvollziehbare Argumente eintreiben. Bleibt: der Künstler als Analytiker gesellschaftlicher und seelischer Krankheitsherde. Aber nur für den, der verstehen und sehen will, wie Robert Delaunay es bereits in den zwanziger Jahren gefordert hat (Der Mensch muss sehen wollen!). Metaphern verschleiern dabei nicht, vielmehr sorgen sie für eine Aufhebung der sozialen Einschränkung zugunsten einer individuellen Lesbarkeit. Diskussionen, differenziert vorgetragen, erreichen dann nicht nur einzelne. Auch avantgardistische Themen bekommen so ihre Chance, überdacht zu werden. Kunst ist ein Synonym für Individualität. Und Individualität hat Folgen.
Zu allen Zeiten haben Künstler sehr viel geleistet - und doch wenig erreicht. So wie der Moloch Gesellschaft Unverdautes ausscheidet, bringt Kunst dem Einzelnen Gewinn, Freiheit und bietet Impulse zur Persönlichkeitsentwicklung. Wie Brecht sagte "kann Kunst die Menschen den Rauschzuständen, Illusionen und Wundern ausliefern. Sie kann die Unwissenheit vergrößern, und sie kann das Wissen vergrößern." Wer diese Ressourcen verschleudert, hat sich selbst auf den Scheiterhaufen gestellt und angezündet. Informationen und Anknüpfungspunkte gibt es zuhauf. Ebenso wie das Heer der Ahnungslosen und Ignoranten. Es tut weh, in die leeren Augen jener zu blicken, die einem am nächsten stehen: Freunde, Angehörige und vermeintlich Gutmeinende. Die geistig unterernährt sind und eine Aversion gegenüber Analyse und Kritik entwickelt haben. Sie alle wissen nicht, dass sie längst mumifiziert sind und nur noch ihre billigen Ressentiments pflegen. Wiedergutmachung bleibt ein Fremdwort, auch wenn sie es stets für sich reklamieren. Dennoch: Der Anspruch der Gesellschaft an die Kunst wird weiter bestehen - weil Kunst die Realität sichtbar macht. Wenn Künstler sich nicht in die innere Emigration zurückziehen.
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Ein Kunstwerk ist autonom
Jedem Bild wohnt ein Geheimnis inne, das sich oft nicht einmal dem Künstler selbst offenbart. So wie der Künstler seine Bildvorstellung umgesetzt hat, muss der Betrachter ein Bild intuitiv zu erfassen versuchen. Erklärungen vernebeln. Kunst ist ihren Betrachtern immer voraus. Vor-Urteile helfen nicht weiter, blinde Gutgläubigkeit schon gar nicht. Sich einlassen auf die Kunst ist eine subjektive Erfahrung. Auch wenn Polemiken und Fiktionen Denk- und Sehweise beeinflussen, ist die persönliche Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk unumgänglich.
Um verstanden zu werden, bricht Kunst immer wieder aus Konventionen und Definitionen aus, stellt in Frage, durchbricht Mythen und schafft neue Sichtweisen. Weil - siehe oben - Kunst den Betrachtern immer voraus ist. Das Publikum muss versuchen, Schritt zu halten. Und nicht fordern, Kunst solle zurückbleiben. Kunst ist frei und unterwirft sich keinen Bedingungen, erst recht nicht die der eigenen Interpretation. Der Künstler hat zu schweigen. Was er zu sagen hatte, hat er in bildhafter Form bereits ausgedrückt. Andernfalls hätte er das Medium Sprache gewählt. Verbale Erklärungen obliegen den ernsthaften Kritikern und Ausstellungsmachern, die das Publikum behutsam und vielleicht auch mit pädagogischem Geschick an eine Werkschau heranführen können.
Jeder hat das Recht, seine Vorstellung vom Schönen und Wahren, vom Hässlichen und Verlogenen in die Auseinandersetzung mit Kunst einzubringen. Will er Kunst aber verstehen, muss er sich auf sie einlassen und forttragen lassen können. Nur dann erfährt der Betrachter seinen Gewinn. Nicht einer wahnwitzigen Mode folgen und Neues und Andersartiges mit dem Vorschlaghammer Kritik zertrümmern. Mach dir selbst ein Bild. Lass es wirken. Verwirf es. Und beginne von neuem. Nur so sind Entwicklung und Verständnis möglich. Ohne den Willen zum Sehen ist kein Verstehen möglich. Ressentiments sind dabei nicht nur hinderlich, sondern tödlich. Undifferenziertes Verhalten schafft Stillstand.
Jedes Kunstwerk ist ein Ausdruck der jeweiligen Zeit und der Wirklichkeit. Mit Leidenschaft, Kraft und Können haben ihre Schöpfer ihre subjektiven Wahrheiten zur Form und Gestalt verholfen. Wer den allgemeinen Geschmack als Wertungsmaßstab für die Beurteilung von Kunst postuliert, verbaut sich jegliche Aussicht darauf, ernst genommen zu werden. Kunst ist nichts für Analphabeten, für jene Möchtegernwissenden, die sich nur mit Surrogaten behelfen. Süßliche Romantik und sentimentaler Kitsch haben noch niemanden zu Einsichten verholfen. Die Gelegenheiten, eigene intellektuelle, psychische und soziale Fähigkeiten zu erkennen und zu entwickeln, sind vorhanden. Das Ausharren auf Großvaters Lehnstuhl hinterm Kachelofen lässt starre Verhaltensmuster weder transparent werden noch sich auflösen. Kommunikationsbereitschaft muss von jedem selber ausgehen. Die Kunst steht bereit. Man muss sich nur auseinandersetzen wollen.
 

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Eberhard Schmidt-Dranske

 

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